Ein neuer UN-Bericht legt offen: Die Hungerkrise in Afrika und im Nahen Osten verschärft sich dramatisch. Während weltweit Fortschritte erzielt werden, nimmt die Ernährungsunsicherheit in diesen Regionen weiter zu. Dieser Artikel beleuchtet die wissenschaftlichen Hintergründe, diskutiert zentrale Einflussfaktoren und stellt aktuelle Forschungsergebnisse sowie Lösungsansätze vor.
1. Definitionen und Grundlagen: Was bedeutet Hunger in internationalen Statistiken?
Der Begriff „Hunger“ umfasst weit mehr als das Fehlen von Nahrung. In der internationalen Entwicklungszusammenarbeit wird zwischen chronischer Unterernährung und akuter Ernährungskrise unterschieden. Die Prävalenz der Unterernährung (PoU) misst den langfristigen Mangel an Kalorienzufuhr, während akute Hungerlagen durch die IPC-Klassifikation erfasst werden.
1.1 Das IPC-System im Überblick
Die „Integrated Food Security Phase Classification“ (IPC) ist ein international anerkanntes Instrument zur Beurteilung von Ernährungskrisen. Es unterscheidet fünf Phasen:
- Minimal: Kein akuter Mangel
- Stress: Mäßige Nahrungsmittelunsicherheit
- Krise: Reduzierter Zugang zu Nahrung mit negativen Auswirkungen
- Notlage: Akute Mangelernährung und hohe Mortalität
- Katastrophe (Hungersnot): Extreme Nahrungsmittelknappheit mit Massensterblichkeit
Für die Stufe 5, die Hungersnot, müssen mindestens zwei von drei Kriterien erfüllt sein: 1) extreme Nahrungsmittelknappheit, 2) akute Unterernährung bei Kindern, 3) überdurchschnittlich hohe Sterblichkeit.
2. Aktuelle Entwicklungen laut UN-Bericht 2025
Der SOFI-Bericht 2025 der FAO zeigt einen weltweiten Rückgang des Hungers auf 673 Millionen Menschen. Dieser Fortschritt wird jedoch von dramatischen regionalen Entwicklungen überlagert. In Afrika stieg die Zahl der hungernden Menschen auf über 307 Millionen. Im Nahen Osten und Westasien sind rund 39 Millionen Menschen betroffen.
Vor allem fragile Staaten wie der Sudan, Syrien, der Jemen und Gaza sind von multiplen Stressoren betroffen – darunter bewaffnete Konflikte, Klimaschocks und wirtschaftlicher Verfall.
2.1 Chronischer Anstieg trotz globaler Verbesserungen
Während sich die globale Lage leicht verbessert hat, stieg die Ernährungskrise in Subsahara-Afrika im sechsten Jahr in Folge. Die Anzahl akut hungernder Menschen stieg in diesen Regionen auf 295 Millionen – ein Anstieg um fast 14 Millionen gegenüber dem Vorjahr. Besonders auffällig ist die Gleichzeitigkeit von Ernährungsknappheit und Preisexplosionen bei Lebensmitteln.
3. Hauptursachen der Krise
3.1 Bewaffnete Konflikte als stärkster Treiber
Konflikte zerstören Ernteflächen, verhindern Saatgutversorgung und behindern Lieferketten. In Ländern wie dem Sudan, Nigeria und Äthiopien führen gewaltsame Auseinandersetzungen zur Vertreibung von Millionen Menschen. Laut FAO sind bewaffnete Konflikte die Hauptursache für akute Hungerlagen in über 70 % der erfassten Krisenregionen.
3.2 Klimawandel und Umweltfaktoren
Die Kombination aus Dürre, Überschwemmungen und schleichender Bodendegradation verschärft die Nahrungsmittelknappheit. In Ostafrika wurden durch die jüngsten Dürren mehr als 9 Millionen Tiere getötet. Der Temperaturanstieg verringert zudem die Ernteerträge – etwa von Mais, einem Grundnahrungsmittel in vielen Ländern.
3.3 Wirtschaftliche Instabilität und Preisvolatilität
In Ländern mit hoher Importabhängigkeit, wie dem Libanon oder Jemen, wirkt sich die Inflation doppelt negativ aus: Die Preise steigen, während die Kaufkraft sinkt. Viele Familien geben mehr als 60 % ihres Einkommens für Nahrung aus. Der Ukraine-Krieg und globale Lieferengpässe haben die Situation weiter verschärft.
4. Regionale Fallbeispiele: Gaza, Sudan und Nigeria
4.1 Gaza
Seit Oktober 2023 hat sich die humanitäre Lage in Gaza dramatisch verschärft. Laut UN-Angaben sind 100 % der Bevölkerung von moderater bis akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Über zwei Drittel leiden unter minimaler oder gar keiner Nahrungsmittelzufuhr. Hilfslieferungen erreichen große Teile der Bevölkerung nicht mehr.
4.2 Sudan
Im Sudan verschärfen sich die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und paramilitärischen Gruppen. Mehr als 25 Millionen Menschen leben in Gebieten mit eingeschränktem Zugang zu Nahrung. Besonders betroffen sind die Regionen Darfur und Kordofan. Die medizinische Versorgung ist nahezu zusammengebrochen.
4.3 Nigeria
Im Nordosten Nigerias ist die Lage besonders dramatisch. Der anhaltende Terror durch Boko Haram verhindert landwirtschaftliche Tätigkeit. Gleichzeitig führen Dürre und Überschwemmungen zu massiven Ernteausfällen. Mehr als 31 Millionen Menschen in Nigeria sind laut IPC als akut unterernährt klassifiziert.
5. Forschungsstand und wissenschaftliche Erkenntnisse
5.1 Clusteranalysen zu Ernährungskrisen
Eine Studie in *Scientific Reports* (2024) identifizierte sieben Hochrisikocluster in Afrika, darunter in Uganda, Angola und Sierra Leone. Die Raum-Zeit-Analysen ermöglichen eine gezielte Ressourcenallokation für Hilfsmaßnahmen und Frühwarnsysteme.
5.2 Big-Data-Prognosen mit Konfliktdaten
Durch Integration von Konfliktdaten in Machine-Learning-Modelle erhöht sich die Genauigkeit von Hungerprognosen erheblich. Das Early Warning System der FAO basiert inzwischen auf diesen erweiterten Modellen.
5.3 Triple Burden: Das neue Gesicht des Hungers
Neue Studien weisen auf ein paradoxes Phänomen hin: Mangelernährte Kinder entwickeln später häufiger Übergewicht. Gleichzeitig bleibt der Mangel an Mikronährstoffen bestehen. Diese Ernährungstransition wird als „Triple Burden“ bezeichnet und stellt neue Anforderungen an Ernährungspolitik.
6. Governance, politische Systeme und wirtschaftliche Strategien
6.1 Bedeutung guter Regierungsführung
Eine Studie mit Daten aus 25 afrikanischen Ländern (1996–2018) zeigt, dass gute Regierungsführung signifikant zur Reduktion von Hunger beiträgt. Korruption, schwache Institutionen und mangelnde Transparenz behindern hingegen jede Hilfe.
6.2 Alternative Finanzierungsmodelle
In islamisch geprägten Ländern wird zunehmend über alternative Modelle wie Zakat-Fonds diskutiert. Diese könnten, so Studien aus Marokko und Ägypten, als komplementäre Finanzierungsquelle für Ernährungshilfe dienen – bislang fehlen jedoch transparente Skalierungsmodelle.
6.3 Marktzugang als strukturpolitische Herausforderung
In vielen ländlichen Regionen Afrikas beträgt der Reiseweg zum nächsten Markt mehrere Stunden. Eine Studie aus dem Jahr 2025 zeigt, dass eingeschränkter Marktzugang direkt mit höherer Unterernährung korreliert. Investitionen in Transportinfrastruktur könnten also doppelte Wirkung entfalten.
7. Kontroversen, offene Fragen und Debatten
- Wann gilt offiziell eine Hungersnot? Die Schwellenwerte sind wissenschaftlich definiert, doch politische Faktoren verzögern oft eine offizielle Deklaration.
- Ist Ernährungssicherheit kurzfristig durch Hilfsgüter lösbar? Oder bedarf es langfristiger struktureller Reformen in Landwirtschaft, Handel und Governance?
- Wie kann Klimapolitik mit Ernährungspolitik versöhnt werden? Diskussionen drehen sich um Prioritäten bei Dürremanagement versus Emissionsminderung.
8. Handlungsempfehlungen und Lösungsansätze
8.1 Kurzfristige Maßnahmen
- Erhöhung der Nahrungsmittelhilfe in akuten Krisengebieten
- Spezialisierte Ernährung für Säuglinge und Kleinkinder
- Digitale Frühwarnsysteme zur rechtzeitigen Reaktion
8.2 Mittelfristige Strategien
- Förderung klimaresilienter Landwirtschaft (z. B. dürreresistente Saaten)
- Ausbau regionaler Märkte und Verkehrsnetze
- Schulung lokaler Bauern in nachhaltiger Produktion
8.3 Langfristige Transformation
- Stärkung staatlicher Institutionen zur transparenten Ressourcennutzung
- Koordination multilateraler Hilfe (UN, AU, Weltbank)
- Politische Lösungen zur Beendigung bewaffneter Konflikte
Quellenverzeichnis
- Scientific Reports: Raum-zeitliche Cluster schwerer Hungerlagen (2024) – Die Studie analysiert persistente Hungerspots in Afrika mit Hilfe geostatistischer Methoden.
- FAO SOFI-Bericht 2025 – Bietet umfassende Daten zu Hungerentwicklung weltweit, mit Fokus auf regionale Unterschiede und Ursachenanalysen.
- arXiv: Prognosemodelle für Ernährungsunsicherheit mit Konfliktdaten – Präsentiert neue KI-Modelle, die Gewaltindikatoren zur besseren Hungerprognose nutzen.