Kamerun

Vergessene Not: Die stille Vertreibungskrise in Kamerun

Ein unterschätztes humanitäres Drama in Westafrika - Kamerun befindet sich seit Jahren in einem Zustand permanenter Krise. Trotz anhaltender Gewalt, wachsender Flüchtlingszahlen und verheerender humanitärer Notlage bleibt das westafrikanische Land international weitgehend unbeachtet. Während andere Krisengebiete regelmäßig Schlagzeilen machen, verläuft das Leid Hunderttausender Menschen in Kamerun im Schatten der Weltöffentlichkeit.

Dimensionen der Vertreibung

Mehr als 3,4 Millionen Menschen in Kamerun benötigen im Jahr 2025 humanitäre Hilfe. Über 1,1 Millionen sind innerhalb des Landes auf der Flucht, während weitere rund 480.000 Geflüchtete aus benachbarten Staaten – vor allem der Zentralafrikanischen Republik – in Kamerun Schutz suchen. Die Kombination aus innerstaatlichen Konflikten und externen Krisen stellt eine massive Belastung für die Bevölkerung und die ohnehin fragile Infrastruktur dar.

Herkunft der Vertriebenen

UrsprungAnzahl der BetroffenenBesonderheiten
Nordwest-/Südwestregion (Anglophone Krise) 700.000+ Innerstaatliche Vertreibung durch Bürgerkrieg
Region Extrême-Nord (Boko Haram) 400.000+ Islamistische Gewalt und Unsicherheit
Grenzregion zur Zentralafrikanischen Republik 345.000+ Flüchtlinge aus Nachbarland

Ursachen der Krise

Die komplexe Lage in Kamerun ist das Ergebnis mehrerer gleichzeitig verlaufender Konflikte. Während sich die internationale Aufmerksamkeit häufig auf einen einzelnen Brennpunkt konzentriert, verdeutlicht die Situation in Kamerun, wie mehrere Krisenherde ein Land paralysieren können.

Die anglophone Krise

Seit 2016 eskaliert ein lang schwelender Konflikt zwischen der französischsprachigen Regierung und der englischsprachigen Minderheit im Nordwesten und Südwesten des Landes. Was als Protest gegen die Marginalisierung anglophoner Lehrer und Richter begann, entwickelte sich schnell zu einem gewaltsamen Konflikt. Bewaffnete Separatisten kämpfen für die Unabhängigkeit des sogenannten „Ambazonien“ – einem imaginären anglophonen Staat.

Die Gewalt ist allgegenwärtig: Entführungen, Erpressungen und gezielte Angriffe auf Bildungseinrichtungen gehören zur Tagesordnung. Über 6.000 Zivilisten kamen seit Beginn der Auseinandersetzungen ums Leben, Hunderttausende flohen. Die kamerunische Regierung reagierte mit massiven Militäroperationen, die ebenfalls zahlreiche zivile Opfer forderten.

Extremismus im Norden: Boko Haram

Im Norden Kameruns, insbesondere rund um den Tschadsee, sorgt die islamistische Terrorgruppe Boko Haram für Angst und Schrecken. Ihre Angriffe auf Dörfer, Schulen und Sicherheitseinrichtungen treiben die Bevölkerung in die Flucht. Der kamerunische Staat ist trotz internationaler Militärkooperationen kaum in der Lage, die Region zu stabilisieren.

Flüchtlingszustrom aus der Zentralafrikanischen Republik

Die anhaltende Instabilität in der Zentralafrikanischen Republik führt seit Jahren zu einem stetigen Zustrom von Geflüchteten nach Ostkamerun. Viele dieser Menschen leben ohne Papiere, unter prekären Bedingungen in inoffiziellen Siedlungen. Ihre Versorgung ist unzureichend, Perspektiven fehlen.

Die Rolle des Klimawandels

Neben der politischen und sicherheitstechnischen Instabilität verschärft auch der Klimawandel die Krise. Dürreperioden, Überschwemmungen und Bodenerosion bedrohen die Landwirtschaft – die Lebensgrundlage der meisten Menschen. Die Klimakrise wirkt dabei als Verstärker bestehender Konflikte: Ressourcen werden knapper, Spannungen nehmen zu, ganze Dörfer werden verlassen.

Humanitäre Hilfe: zu wenig, zu spät

Der kamerunische Hilfsplan der internationalen Gemeinschaft ist für das Jahr 2025 chronisch unterfinanziert. Lediglich 45 Prozent der notwendigen Mittel wurden bereitgestellt. Hilfsorganisationen warnen vor einer Verschärfung der Notlage. Besonders alarmierend: In Regionen, in denen offizielle Lager fehlen, leben über 70 Prozent der Binnenvertriebenen in improvisierten Behausungen – ohne Zugang zu Trinkwasser, Strom oder medizinischer Versorgung.

Vergessene Stimmen: Kinder ohne Geburtsurkunden

Ein besonders gravierendes Problem ist die fehlende Dokumentation von Flüchtlingskindern. Viele Kinder, insbesondere aus der Zentralafrikanischen Republik, wurden in Kamerun geboren, ohne je eine Geburtsurkunde erhalten zu haben. Damit fehlt ihnen nicht nur ein rechtlicher Status – sie sind vom Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und später auch zum Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen. Die Gefahr von Staatenlosigkeit ist hoch.

Bildungskrise: Eine verlorene Generation?

Infolge des bewaffneten Konflikts sind zahlreiche Schulen in Kamerun geschlossen. Schätzungen zufolge können fast eine halbe Million Kinder keine Schule besuchen. Besonders in den von der anglophonen Krise betroffenen Regionen sind Bildungsinfrastruktur und Lehrpersonal akut gefährdet. Gewalt gegen Lehrerinnen und Lehrer sowie Angriffe auf Schulgebäude sind keine Seltenheit.

„Bildung ist das erste Opfer in einem Konflikt, das letzte, das sich erholt“ – ein Lehrer aus Bamenda

Die Umwelt leidet mit

Die Gewalt in Kamerun bleibt nicht ohne Folgen für die Umwelt. In Naturschutzgebieten wie dem Tofala Hill Wildlife Sanctuary haben sich bewaffnete Gruppen verschanzt. Die Folgen: Wilderei, Abholzung und massive Störungen der Lebensräume gefährdeter Tierarten. Der Cross-River-Gorilla, eine der seltensten Primatenarten der Welt, ist akut bedroht. Umweltschutzprojekte mussten gestoppt werden – aus Sicherheitsgründen.

Kreativer Widerstand: Kunst als Mittel der Hoffnung

Inmitten des Leids entstehen kreative Ausdrucksformen. Junge Kameruner nutzen Poesie, Musik und Street Art, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten und Bewusstsein für die Krise zu schaffen. Das Projekt „Students In Activism“ verknüpft Bildung mit künstlerischem Ausdruck und fördert kritisches Denken bei Jugendlichen. Spoken-Word-Performances, wie sie vom Künstler „Penboy“ initiiert wurden, thematisieren Flucht, Trauma und Hoffnung gleichermaßen.

Engagement und Hoffnung: Die Rolle der Jugend

Trotz der schwierigen Lage engagieren sich zahlreiche junge Menschen aktiv für den Frieden. Organisationen wie „Local Youth Corner Cameroon“ bieten Alternativen zur Gewalt. Mit Sportturnieren, Workshops und Integrationsprojekten fördern sie Versöhnung, Dialog und Gemeinschaft. Ihr Ziel: Radikalisierung verhindern und soziale Verantwortung stärken.

Repression statt Dialog

Statt auf Versöhnung zu setzen, geht der kamerunische Staat zunehmend repressiv gegen Kritiker vor. Im Vorfeld der anstehenden Wahlen 2025 wurden unabhängige Medien unter Druck gesetzt, Journalisten eingeschüchtert oder verhaftet. Die ohnehin eingeschränkte Meinungsfreiheit steht auf dem Spiel. Ohne freien Zugang zu Informationen bleibt eine demokratische Lösung in weiter Ferne.

Schweigen der Weltgemeinschaft

Obwohl die Dimension der Krise erschreckend ist, bleibt die internationale Resonanz verhalten. Die mediale Aufmerksamkeit liegt weit unter der anderer Krisenregionen. So wurde Kamerun 2024 in weniger als 30.000 Artikeln weltweit erwähnt – verglichen mit Hunderttausenden Beiträgen über die Ukraine oder Gaza. Auch politisch bleibt die Unterstützung schwach. Diplomatische Bemühungen um Frieden oder Vermittlung sind kaum erkennbar.

Auswirkungen auf die afrikanische Diaspora in Deutschland

Für viele Afrikanerinnen und Afrikaner in Deutschland – insbesondere aus Kamerun – ist die Krise nicht nur eine Nachricht aus der Heimat, sondern eine persönliche Realität. Verwandte sind betroffen, Familien getrennt, Existenzen bedroht. Viele engagieren sich in Selbsthilfegruppen, spenden Geld oder versuchen, durch politische Initiativen Aufmerksamkeit für die Lage zu schaffen. Doch auch hier fehlt es oft an verlässlichen Informationen und medialer Präsenz.

Fazit: Eine Krise, die mehr Aufmerksamkeit verdient

Die Vertreibungskrise in Kamerun ist kein Randproblem. Sie ist eine humanitäre Katastrophe mit globalen Auswirkungen, die jeden Tag verschärft wird – durch politische Stagnation, klimatische Veränderungen und internationale Gleichgültigkeit. Was fehlt, ist nicht nur Geld, sondern auch Aufmerksamkeit, Solidarität und politischer Wille. Es ist Zeit, dass sich das ändert.

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