In den letzten Jahren hat sich in Deutschland eine bemerkenswerte Bewegung Schwarzer Selbstorganisation und Sichtbarkeit entwickelt. Im Zentrum steht der Afrozensus – eine umfassende Erhebung über die Lebensrealitäten, Erfahrungen und Herausforderungen Schwarzer Menschen in Deutschland. Doch der Afrozensus ist weit mehr als nur eine Datensammlung: Er ist Teil eines größeren Empowerment-Prozesses, durch den sich Schwarze Institutionen professionalisieren, vernetzen und zunehmend gesellschaftspolitisch Einfluss nehmen. Dieser Artikel analysiert den Status quo, beleuchtet Hintergründe und zeigt, wie tiefgreifend sich das institutionelle Wachstum auf das gesellschaftliche Gefüge auswirkt.
Afrozensus 2020: Von der Unsichtbarkeit zur Datengrundlage
Der Afrozensus 2020 war die erste groß angelegte, community-basierte Umfrage unter Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland. Über 6.000 Personen nahmen teil – ein signifikanter Teil der etwa eine Million Menschen afrikanischer Herkunft, die in Deutschland leben. Die Ergebnisse offenbarten ein vielschichtiges Bild: Während 77 % der Teilnehmenden von Diskriminierung im Alltag berichteten, gaben gleichzeitig rund 47 % an, sich aktiv gesellschaftlich zu engagieren.
Besonders deutlich wurde, dass Rassismus in Deutschland nicht nur punktuell, sondern systemisch wirkt – etwa in Behörden, bei der Polizei, im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt. 56 % der Befragten berichteten von anlasslosen Polizeikontrollen. 93 % erklärten, dass ihre Erfahrungen mit Rassismus gesellschaftlich kaum ernst genommen würden. Diese Zahlen zeigen: Der Bedarf an strukturellem Wandel ist evident.
Empowerment: Mehr als nur Selbsthilfe
Empowerment bedeutet in diesem Kontext nicht nur individuelle Selbstermächtigung, sondern kollektive Stärkung durch Netzwerke, Bildung und politische Teilhabe. Dabei spielt die Community eine entscheidende Rolle. Der Afrozensus selbst wurde von Organisationen wie Each One Teach One (EOTO) und Citizens For Europe (CFE) entwickelt – von Schwarzen für Schwarze. Diese partizipative Methodik war und ist ein Meilenstein für gesellschaftliche Repräsentation.
Empowerment wird zunehmend auch als Gegenstrategie zu jahrzehntelanger Unsichtbarmachung, Stereotypisierung und Exotisierung verstanden. Die von Rassismus betroffenen Gruppen schaffen sich Räume, in denen sie über ihre eigene Lebensrealität sprechen, Bildungsarbeit leisten und politisch wirksam werden.
Die Akteure: Wachsende Institutionen mit klarem Auftrag
Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD Bund e.V.)
Seit 1986 aktiv, gilt die ISD als eine der ältesten und einflussreichsten Organisationen der Schwarzen Zivilgesellschaft in Deutschland. In zahlreichen Städten – darunter Berlin, Hamburg und Frankfurt – organisieren sich lokale Gruppen, die sich in Bereichen wie politischer Bildung, Erinnerungskultur und Jugendförderung engagieren. Die ISD erhielt zuletzt über 500.000 € staatliche Fördergelder zur Weiterentwicklung ihrer Projekte.
ADEFRA e.V. – Schwarze Frauen im Fokus
ADEFRA wurde 1986 gegründet und steht für afrodeutsche Frauen und Schwarze Frauen in Deutschland. Die Organisation bietet Schreibwerkstätten, politische Bildungsformate und kulturelle Veranstaltungen an. Der Fokus liegt dabei auf Intersektionalität, also der Verschränkung von Rassismus, Sexismus und weiteren Diskriminierungsformen.
TANG – The African Network of Germany
Als bundesweites Netzwerk versteht sich TANG als Brücke zwischen afrikanischen Communities und der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Es betreibt Integrations-, Gesundheits- und Bildungsprogramme und wirkt zunehmend als politisches Sprachrohr auf Landes- und Bundesebene.
Each One Teach One (EOTO)
EOTO ist nicht nur Mitinitiator des Afrozensus, sondern auch eine der innovativsten Bildungseinrichtungen der Community. Neben Bibliotheken und Kulturveranstaltungen führt EOTO Antidiskriminierungsprojekte durch, unterhält Community-Zentren und organisiert nationale Konferenzen.
Kulturelle Sichtbarkeit: Von „Farbe bekennen“ bis Black Biennale
Die Sichtbarkeit Schwarzer Geschichte und Gegenwart wurde durch kulturelle Initiativen erheblich gestärkt. Bereits 1986 erschien das Werk „Farbe bekennen“ von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz. Es markiert einen literarischen Meilenstein und war der Beginn eines intellektuellen Selbstverständnisses Schwarzer Menschen in Deutschland.
Künstlerische Plattformen wie die Black Berlin Biennale (seit 2012) zeigen Schwarze Kunst im öffentlichen Raum und geben damit wichtige Impulse für eine neue Erinnerungskultur. Veranstaltungen wie der Black History Month oder der May Ayim Award ergänzen diese Sichtbarkeit auf struktureller Ebene.
Dekoloniale Bewegungen und Stadtraumgestaltung
Auch im urbanen Raum sind Schwarze Institutionen aktiv. Die Initiative Dekoloniale führt Stadttouren und Interventionen zur Umbenennung kolonial belasteter Straßennamen durch. So wurde etwa der ehemalige Nachtigalplatz in Berlin in Anton-Wilhelm-Amo-Straße umbenannt – ein sichtbares Zeichen für historisches Bewusstsein.
Solche Projekte stoßen teils auf Widerstand, eröffnen aber auch neue Räume für gesellschaftliche Debatten über Kolonialismus, Gedenken und kollektive Verantwortung.
Statistische Differenzierungen: Wer ist Schwarz in Deutschland?
Die Ergebnisse des Afrozensus zeigen eine große Diversität innerhalb der Schwarzen Communities:
Kriterium | Wert |
---|---|
In Deutschland geboren | 71 % |
Deutsche Staatsbürgerschaft | 85 % |
Migrationshintergrund | 73 % |
Eigene oder familiäre Fluchterfahrung | 15,5 % |
Diese Zahlen verdeutlichen, dass Schwarze Menschen in Deutschland keine homogene Gruppe darstellen. Vielmehr besteht eine breite Vielfalt an Herkunft, Erfahrung und Identität – was wiederum die Notwendigkeit differenzierter Ansätze im Empowerment unterstreicht.
Kritische Stimmen: Zwischen Aktivismus und Wissenschaft
In wissenschaftlichen und aktivistischen Kreisen gibt es auch kritische Auseinandersetzungen mit den Begriffen und Ansätzen des Empowerments. Einige befürchten, dass ein zu stark identitätsbasierter Zugang die gesellschaftliche Pluralität verengen könnte. Andere kritisieren, dass White-Critical-Ansätze oft in den Vordergrund rücken und damit Schwarze Perspektiven überlagern.
Dennoch herrscht Konsens darüber, dass Empowerment ein notwendiger Prozess bleibt – nicht als Selbstzweck, sondern als strukturverändernde Strategie. Die Herausforderung besteht darin, Räume zu schaffen, die sowohl solidarisch als auch inklusiv sind.
Ein Blick in die Zukunft
Mit dem Auslaufen der UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft im Jahr 2024 endet ein internationaler Fokus – doch das Empowerment Schwarzer Institutionen in Deutschland steht erst am Anfang. Viele Organisationen professionalisieren ihre Arbeit, bauen Förderstrukturen aus und wirken verstärkt politisch. Bildungseinrichtungen, Kultureinrichtungen und Verwaltung werden zunehmend mit Forderungen konfrontiert, rassismuskritische Perspektiven dauerhaft zu verankern.
Zitat eines ISD-Mitglieds auf einer Empowerment-Konferenz 2024 in Berlin: „Wir sind nicht nur Betroffene, wir sind Gestalter dieser Gesellschaft.“
Fazit
Die Entwicklung Schwarzer Institutionen in Deutschland ist ein bedeutender gesellschaftlicher Wandel. Der Afrozensus war dabei nur der Auftakt. Die nun entstandenen Netzwerke, Bildungsinitiativen und kulturellen Plattformen leisten nicht nur Empowerment für die Community selbst – sie sind ein Innovationsmotor für die gesamte Gesellschaft. Sichtbarkeit, politische Teilhabe und kollektives Gedächtnis erfahren durch sie eine neue Qualität.
In einer Zeit, in der rassistische Tendenzen europaweit zunehmen, senden diese Bewegungen ein deutliches Signal: Empowerment ist kein Nischenthema – es ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit.